Vier Vorschläge für eine zeitgemässe soziale Sicherheit

Leistungen der Sozialversicherungen reichen oftmals nicht

Die Schweiz verfügt über ein umfassendes System der sozialen Sicherheit. Doch dieses fängt längst nicht alle Personen auf – gewisse Lebensrealitäten und Arbeitsformen sind schlecht abgesichert. Caritas Schweiz fordert deshalb einen grundlegenden Systemwechsel.

Ihre Aufgabe ist eigentlich ganz simpel: Die Sozialversicherungen der Schweiz bieten Schutz vor Risiken, deren finanzielle Folgen jemand alleine nicht bewältigen kann. Die AHV sichert ein minimales Einkommen nach der Pensionierung, die IV hilft bei Invalidität und die Arbeitslosenversicherung beim Jobverlust.

Doch das System der sozialen Sicherheit weist diverse Lücken und Mängel auf. Ein Beispiel: Wer seinen Job verliert, erhält nur 70 bis 80 Prozent des vorherigen Lohnes von der Arbeitslosenversicherung erstattet. Für Personen, die in Tieflohnbranchen oder Teilzeit arbeiten, reicht dies oftmals nicht zum Leben – das Armutsrisiko steigt. Betroffene müssen dann Sozialhilfe beantragen, die aber viel zu tief angesetzt ist und den Lebensbedarf nur für kurze Zeit deckt. Zudem ist der Bezug von Sozialhilfe mit Scham behaftet.

Dies zeigt exemplarisch, dass das heutige System gewisse Lebensrealitäten und Arbeitsformen nur ungenügend absichert. Kein Wunder: Die Sozialversicherungen sind grösstenteils im 20. Jahrhundert entstanden. Die meisten orientieren sich immer noch an gesellschaftlichen Realitäten, die heute nicht mehr unbedingt der Norm entsprechen.

Heutiges System muss überarbeitet werden

Caritas Schweiz fordert deshalb einen grundlegenden Systemwechsel. Folgende vier Elemente sind zentral für eine funktionierende und umfassende soziale Sicherheit:

  1. Ergänzungsleistungen für alle

Ergänzungsleistungen (EL) gibt es bereits zur AHV und IV. Vier Kantone kennen zudem EL für Familien. Neu sollen diese Bedarfsleistungen allen Menschen zur Verfügung stehen, deren Einkommen nicht für den Lebensunterhalt reicht. Und zwar unabhängig davon, was der Grund für die unzureichenden Einkünfte sind, etwa Teilzeitarbeit wegen der Kinderbetreuung, zu tiefer Lohn oder Krankheit.

  1. Eine einzige Institution

Das System der Sozialversicherungen ist kompliziert und unübersichtlich. Zudem sind Betroffene häufig mit unterschiedlichen Problemen konfrontiert und werden von den einzelnen Versicherungen hin und her geschoben. Künftig soll es eine einzige Institution geben, die sowohl die finanziellen Leistungen spricht wie auch für die Beratung und Begleitung der Betroffenen zuständig ist.

  1. Entkoppelung der Existenzsicherung vom Migrationsrecht

Menschen ohne Schweizer Pass werden vom System der sozialen Sicherheit in mehrfacher Hinsicht benachteiligt. So müssen beispielsweise Personen aus sogenannten Drittstaaten mindestens zehn Jahre ununterbrochen in der Schweiz leben, um einen Anspruch auf EL zur IV oder AHV zu erhalten. Auch sind die Beiträge der Asylsozialhilfe wesentlich tiefer als jene der regulären Sozialhilfe. Es besteht sogar die Gefahr, das Aufenthaltsrecht zu verlieren, wenn man Sozialhilfe bezieht.

Für die Caritas ist klar: Ausländerrechtliche Bestimmungen dürfen die soziale Sicherheit und insbesondere die Existenzsicherung nicht untergraben, weder mit niedrigeren Ansätzen noch mit ausländerrechtlichen Sanktionen.

  1. Stärkung des Service Public

Wer wenig Geld hat, ist besonders auf eine funktionierende, umfassende und günstige Grundversorgung angewiesen. Dazu zählt nicht nur Infrastruktur wie Spitäler oder öffentliche Verkehrsmittel, sondern auch ein gutes Bildungssystem, eine zugängliche und inklusive Gesundheitsversorgung sowie eine ausgebaute Familienpolitik.

Bei Letzteren besteht noch viel Nachholbedarf: Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen zahlen viel für Krankenkassenprämien und können sich dennoch viele medizinische Behandlungen kaum leisten. Und familienexterne Kinderbetreuungsangebote fehlen nach wie vor in etlichen Gemeinden, sind für die Eltern zu teuer und bieten keine Lösung bei irregulären Arbeitszeiten. Hier müsste der Service Public ausgebaut werden.

Aus Sicht der Caritas sind diese vier Elemente nötig, damit niemand mehr durch das System der sozialen Sicherheit fällt und alle an der Gesellschaft teilhaben können. Sie sind zentral für eine Schweiz ohne Armut.

Geschrieben von Aline Masé, Leiterin Fachstelle Sozialpolitik, und Michael Egli, Leiter Fachstelle Migrationspolitik bei Caritas Schweiz

Interviewanfragen und weitere Informationen: medien@caritas.ch

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Titelbild: © Thomas Plain